Freitag, 16. Oktober 2015

Wie ein Lahmer das Laufen lernte

eine Kurzgeschichte,

Jonas Bente, April 2015






Ein Rudel wilder Kinder stürmte lärmend, stolpernd, schreiend die Straße herunter. Ein Karneval des störenden Irrsinns. Penetrant, aufdringlich, jung und dumm. Akzeptiere den Wahnsinn, du bist schon längst ein Teil davon. Die Worte eines alten Freundes kamen mir in den Sinn. Damals, wie auch jetzt, schüttelte ich nur lächelnd den Kopf. Kurze Zeit später hatte er sich mit dem Colt seines Vaters von diesem Wahnsinn befreit. So läuft das nun einmal.
Und was tat ich jetzt? Ich saß. Eine Tätigkeit, die ich über die Jahre hinweg perfektioniert hatte. Von Mittags bis hin zum frühen Abend existierte für mich nur die Veranda, mein kleiner Vorgarten und die leere Straße. Während dieser Zeit war diese kleine Welt mein Lebensmittelpunkt. Ich dachte nach, ließ mein Leben, meinen momentanen Zustand der trockenen Alltäglichkeit Revue passieren. Neben mir ein Sechserträger Lone Star, welchen ich bis hin zum letzten Sonnenstrahl geleert hatte. Dann ging ich leicht schwankend in die Küche, stellte ein Fertiggericht in die Mikrowelle und betrachtete die drehende Plastikschale bis der erlösende Ton erklang. Ich ging in mein Schlafzimmer, aß lesend die geschmacklose, nur lauwarme Masse und legte mich, mit einem Knirschen meiner Knochen, einem Knarzen des Bettes schlafen. Als das Sonnenlicht durch das Fenster drang, erwachte ich gerädert und meine immerwährend gleichbleibende Routine wiederholte sich. Immer und immer wieder. Nach einem Spaziergang nahm ich auf der Veranda Platz, blickte auf meine faltigen, von Altersflecken übersäten Hände, herab auf meinen knochigen Körper, den meine weite Kleidung ja doch nicht verdecken konnte. Warum auch? Ich betrachtete den verwahrlosten Garten und die brüchiger werdende Straße. Alles zerfiel stetig, so verging die Zeit. Mein Bart wurde länger, der Garten verwilderte zusehends. In der Wohnung stapelte sich der Müll und dreckiges Geschirr, sodass bald ein Geruchgemisch aus Bier, abgestandenen Zigarettenrauch und Verwesung schwer durch die Wohnung waberte, bis irgendwann jemand von der Gemeinde kam, den Garten und die Wohnung zumindest oberflächlich in Ordnung brachte. Mein Haus sollte schließlich nicht das Bild des Dorfes mit ihren feinen Gärten und Häuschen ruinieren. Ich spuckte aus bei dem Gedanken daran. Die Versuche des Sozialarbeiters ein Gespräch aufzubauen, wies ich ab. Ich brauchte kein geheucheltes Interesse, kein Mitleid für meinen Zustand. Ich hatte es mir so ausgesucht. Bedarf an einer Unterhaltung mit einem über motivierten, pubertierenden, jungen Mann hatte ich wahrlich nicht.
Seufzend öffnete ich mit einem Klacken die nächste Dose Bier. Nach einem tiefen Schluck stellte ich sie schmatzend wieder neben meinen Sessel. Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung auf der gegenüberliegenden Straßenseite wahr. Neugierig hob ich den Blick und wartete geduldig, dass jemand oder etwas aus den Büschen heraustrat. Nichts passierte. Wahrscheinlich hatte ich es mir eingebildet, dachte ich schulterzuckend. Ich nahm mir eine Zigarette aus der Brusttasche meines ausgeblichenen Hemdes und steckte sie mir in den Mundwinkel. Noch bevor ich sie mir anzünden konnte, hörte ich leise trippelnde Schritte, die vor der Treppe zur Veranda stoppten. Kurz verharrte meine Hand mit dem Feuerzeug und fuhr dann mit einem Klicken des Feuersteins an die Zigarettenspitze. Mit einem Knistern und Aufflammen inhalierte ich den ersten Zug und lehnte mich dann seufzend im Sessel zurück. Das kleine Mädchen stand leicht nervös, von einem auf den anderen Fuß wippend, vor mir. Eine Hand im wild zerzausten Haar, die andere in einer dreckigen Latzhose vergraben. Das Wippen stoppte und sie beugte sich vor. Abwartend betrachtete ich das kleine Ding. Aber sie sprach keinen Ton, verbeugte sich lediglich und legte einen kleinen rot-grünen Apfel auf die unterste Stufe. Im nächsten Moment sprang sie lachend und hüpfend davon. Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Mühsam stand ich auf, nahm den Apfel in die Hand und schüttelte abermals den Kopf. Langsam ging ich zum Gartentor und schloss es, schaute vorher noch einmal die Straße herunter, aber das Mädchen war verschwunden. Mein Blick fiel wieder auf den Apfel. Ich nahm einen Bissen und verzog angewidert das Gesicht. Er schmeckte abscheulich. Ein bitterer Film legte sich auf Zähne und Gaumen. Ich spuckte den Bissen aus und warf den Apfel davon. An meinen Platz zurückgekehrt, nahm ich einen tiefen Schluck Bier und steckte mir eine weitere Zigarette an, um diesen eigenartig aufdringlichen Geschmack zu überdecken. Jedoch vergebens. Meine Zunge fühlte sich merkwürdig pelzig und taub an. Das Gefühl schien sich in meinem Mund mehr und mehr auszubreiten, sodass ich gierig nach dem Bier griff, es leer trank und gleich nach einem neuen griff, welches ich in einem Zug herabstürzte. Außer Atem holte ich tief Luft und spürte voller Schrecken, wie sich das Gefühl weiter den Rachen herabstürzte und meinen Körper zu erfüllen begann. Ich wurde panisch, mein Herz schlug schneller, wilder. Die Nasenflügel bebten, saugten gierig Luft in meine Lunge. Aber nichts half. Meine Kehle schnürte sich zu. Ein Schreien versagte den Weg zu den Stimmbändern und verhallte ungehört in meinem Verstand. Gehetzt blickte ich mich um, versuchte aufzustehen, aber meine Beine verweigerten ihren Dienst. Mein Körper wurde kraftloser, während die Umgebung begann, sich aufzulösen. Das Holz der Veranda splitterte nach und nach, wandelte sich zu Staub, verschwand im Nichts. Gras welkte, verweste, ließ nichts als wüste Erde zurück. Der Sessel, auf dem ich saß, knirschte, verrottete, barst zu einer Wolke, während ich, unfähig mich zu bewegen, in der Luft verharrte. Ich war ohnmächtig, verdammt zuzuschauen, wie sich alles nach und nach zu Trümmern, Asche und Staub wandelte. Ein heißer Wind fegte über die wüste Ebene, blies die mich umgebende Wolke davon. Ich selbst verharrte immer noch schwebend, spürte und beobachtete, wie sich meine alte brüchige Haut abblätterte. Mehr aus Angst als vor Schmerz krümmte ich mich zusammen, während nach und nach mein Fleisch und meine Knochen zerfielen. Im selben Moment jedoch erlebte mein Körper eine Wiedergeburt. Muskeln, die eingefallen zu Asche zerfielen, wuchsen neu, frisch, dehnten, spannten und verbanden sich. Das falsche Gebiss fiel mir aus dem Mund und aus dem jungen, gesunden Zahnfleisch wuchs eine Reihe neuer, starker Zähne. Haare und Bart gewannen an Farbe, wuchsen kräftig, lockig nach. Und über das Fleisch meines Körpers legte sich eine spannende, rosige Haut. Wie wild begann mein Körper jetzt zu zittern, als müsste sich der Verstand zunächst an dieses neue Gefäß gewöhnen und sackte dann langsam zu Boden. Sanft wurde ich abgesetzt, immer noch zitternd, trotz der Wärme frierend. Hustend spuckte ich einen blutigen klumpen Eiter aus, mich weiter am Boden wälzend, bis meine Haut von einer Schicht aus sandfarbenem Staub bedeckt war. Am Rücken liegend beruhigte ich mich, die Augen noch geschlossen haltend. Als ich sie aufriss, blickte ich zur stechend hellen Sonne, dass meine Pupillen auf Stecknadel Größe schrumpften und ich meine Augen schmerzhaft zusammenreißen musste. Geblendet sah ich Flecken verschiedenster Farbe durch mein Blickfeld schweben. Langsam ruhiger werdend, setzte ich mich auf, wartete noch kurz, ehe ich vorsichtig meine Augen erneut öffnete. Vor mir breitete sich eine endlos erstreckende Wüste aus. Ein trockener Wind fegte über kleine und größere Trümmerstücke, die sich geräuschlos weiter auflösten und schließlich zu Staub zerfallen an mir vorbei wehten. Stolpernd drehte ich mich um die eigene Achse, aber alles, was ich erfassen konnte, war das trostlose Nichts. Lachend sackte ich auf Knie und Hände. Das konnte doch wohl nicht wahr sein. Wie irre begann ich zu kichern, als der Blick auf meine Hände fiel. Es musste ein Traum sein, anders war das nicht zu erklären. Ich legte mich auf den Rücken und betrachtete erstaunt meine Handflächen. Es fühlte sich furchtbar real an. Ich kniff mir in den Handrücken und die gesunde Haut schnellte gleich wieder, leicht gerötet, zurück. Keine Spuren des Alters waren zurück geblieben. Ich seufzte und richtete mich auf, fühlte die jungen Muskeln in mir arbeiten, spürte die Kraft, die mich durchströmte. Mein Lächeln wuchs und wuchs, erfasste bald den ganzen Körper. Versuchsweise machte ich einige Sprünge, warf mich in die Luft und schlug in kindlicher Freude Räder. Ich fühlte mich wie ein Lahmer, der das Laufen wieder erlernte. Mächtig spürte ich mein Herz schlagen, ich stand still, füllte ohne ein Keuchen und Kratzen meine Lunge, als ich ein Beben zu meinen Füßen spürte. Um mich herum brach die Erde in sich zusammen. Risse zogen sich Schlangen gleich durch das Gestein, fraßen sich tiefer und tiefer in das Erdreich. Felsen brachen ab und fielen in unabsehbare Tiefe. Sie wurden nach und nach verschlungen vom flammenden Kern, bis nur mehr ein steinerner Stift verblieb, auf dem ich stand. Einen Moment stand alles still. Kein Ton war zu vernehmen. Selbst mein Herz setzte einen Schlag aus. Eine innere Ruhe ergriff mich, als ich in die Leere trat und absprang. In der Schwärze verharrend sah ich die Welt untergehen, sich verwandeln in einen farbenfrohen Feuerball, sich selbst verzehrend, immer wieder gebärend, um dann, ohne Verbleib, im Nichts zu verschwinden.
Aus dem Nichts heraus entstand lautlos im leeren Raum ein dunkler, runder Körper. Schwach glimmend nahm man im Innern eine pulsierende Lichtquelle wahr, die sich nach und nach ausdehnte und bald das ganze Gebilde vereinnahmte. Wie eine Flüssigkeit waberte das Licht mal mehr, mal weniger stark. Im stetigen Rhythmus eines schlagenden Herzens pumpte die Erscheinung das Licht weiter hinaus, bis sich feine, sanft leuchtende Wurzeln abzweigten, durch die das Licht wie Blut schwappte. Es entstand ein Geäst, welches sich in alle Richtungen gleichsam ausbreitete, immer feiner, immer strukturierter werdend. Ein brummendes Vibrieren ergriff mich. Meine Hand fuhr langsam an die Brust. Es war mir, als hörte und spürte ich einen gigantischen Bienenschwarm durch mich hindurch fliegen. Mein Herzschlag beschleunigte sich, wurde aufgeregter, wilder. Schlug gleichsam im Takt des pulsierenden Lichtes. Es dehnte sich aus. Sackte wieder zusammen. Mit jedem Ausdehnen erweiterte sich das Geäst in alle Richtungen, bis es bald das Schwarze im Innern verdrängte. Ward nurmehr ein warm leuchtender Ball wogenden Lichtes. Flüssige Flammen leckten in eleganten Wirbeln über die Oberfläche, zogen feine, glänzende Fäden hinter sich her, die nach und nach wieder verblassten. Das Gebilde wuchs fortwährend, dehnte sich unaufhaltsam aus. Gebar weitere glimmende Körper, die, ebenfalls sich in ihrer Form entfaltend, in Ellipsen um den glühenden Ball rotierten. In einem ohrenbetäubend stillen Moment verharrte alles. Um sich dann in unsagbarer Geschwindigkeit zu verdichten, bis der Körper in Staubkorngröße alles vereinnahmte. In Sekundenbruchteilen waberten Flammen stärker und stärker leuchtend, Leben erschaffend, die Leere verzehrend. Meere, Berge, Wälder. Alles wurde in einem Augenblick aus Flammen geboren. Ich wurde hinein gesogen in diesen Wirbelsturm der mir atemraubenden Eindrücke. Starb, lebte jahrelang in jener Sekunde. Wurde neu geboren in zehntausenden Momenten. Ich lachte schrie, johlte. Blickte auf, sprach Wörter, die ich nicht vernahm. Ein Rausch, ein flüssiger Traum. Ich lebte, pulsierte, vibrierte, veränderte die Gestalt in etwas, das zwischen allen Grenzen lag. Ich schmolz, verdampfte, wurde, geschah. Wandelte durch weite Wüsten und schwamm durch sich ewig erstreckende Meere. Als ich den höchsten Punkt der Erde erreichte, biss ich herzhaft in einen Apfel, den mir ein junges Mädchen reichte.
„Gewöhnlich ist das Leben niemals, solange du deine Augen für das Ungewöhnliche öffnest“, sagte sie mir mit einem fröhlichen Augenzwinkern. -