Freitag, 16. Oktober 2015

Wie ein Lahmer das Laufen lernte

eine Kurzgeschichte,

Jonas Bente, April 2015






Ein Rudel wilder Kinder stürmte lärmend, stolpernd, schreiend die Straße herunter. Ein Karneval des störenden Irrsinns. Penetrant, aufdringlich, jung und dumm. Akzeptiere den Wahnsinn, du bist schon längst ein Teil davon. Die Worte eines alten Freundes kamen mir in den Sinn. Damals, wie auch jetzt, schüttelte ich nur lächelnd den Kopf. Kurze Zeit später hatte er sich mit dem Colt seines Vaters von diesem Wahnsinn befreit. So läuft das nun einmal.
Und was tat ich jetzt? Ich saß. Eine Tätigkeit, die ich über die Jahre hinweg perfektioniert hatte. Von Mittags bis hin zum frühen Abend existierte für mich nur die Veranda, mein kleiner Vorgarten und die leere Straße. Während dieser Zeit war diese kleine Welt mein Lebensmittelpunkt. Ich dachte nach, ließ mein Leben, meinen momentanen Zustand der trockenen Alltäglichkeit Revue passieren. Neben mir ein Sechserträger Lone Star, welchen ich bis hin zum letzten Sonnenstrahl geleert hatte. Dann ging ich leicht schwankend in die Küche, stellte ein Fertiggericht in die Mikrowelle und betrachtete die drehende Plastikschale bis der erlösende Ton erklang. Ich ging in mein Schlafzimmer, aß lesend die geschmacklose, nur lauwarme Masse und legte mich, mit einem Knirschen meiner Knochen, einem Knarzen des Bettes schlafen. Als das Sonnenlicht durch das Fenster drang, erwachte ich gerädert und meine immerwährend gleichbleibende Routine wiederholte sich. Immer und immer wieder. Nach einem Spaziergang nahm ich auf der Veranda Platz, blickte auf meine faltigen, von Altersflecken übersäten Hände, herab auf meinen knochigen Körper, den meine weite Kleidung ja doch nicht verdecken konnte. Warum auch? Ich betrachtete den verwahrlosten Garten und die brüchiger werdende Straße. Alles zerfiel stetig, so verging die Zeit. Mein Bart wurde länger, der Garten verwilderte zusehends. In der Wohnung stapelte sich der Müll und dreckiges Geschirr, sodass bald ein Geruchgemisch aus Bier, abgestandenen Zigarettenrauch und Verwesung schwer durch die Wohnung waberte, bis irgendwann jemand von der Gemeinde kam, den Garten und die Wohnung zumindest oberflächlich in Ordnung brachte. Mein Haus sollte schließlich nicht das Bild des Dorfes mit ihren feinen Gärten und Häuschen ruinieren. Ich spuckte aus bei dem Gedanken daran. Die Versuche des Sozialarbeiters ein Gespräch aufzubauen, wies ich ab. Ich brauchte kein geheucheltes Interesse, kein Mitleid für meinen Zustand. Ich hatte es mir so ausgesucht. Bedarf an einer Unterhaltung mit einem über motivierten, pubertierenden, jungen Mann hatte ich wahrlich nicht.
Seufzend öffnete ich mit einem Klacken die nächste Dose Bier. Nach einem tiefen Schluck stellte ich sie schmatzend wieder neben meinen Sessel. Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung auf der gegenüberliegenden Straßenseite wahr. Neugierig hob ich den Blick und wartete geduldig, dass jemand oder etwas aus den Büschen heraustrat. Nichts passierte. Wahrscheinlich hatte ich es mir eingebildet, dachte ich schulterzuckend. Ich nahm mir eine Zigarette aus der Brusttasche meines ausgeblichenen Hemdes und steckte sie mir in den Mundwinkel. Noch bevor ich sie mir anzünden konnte, hörte ich leise trippelnde Schritte, die vor der Treppe zur Veranda stoppten. Kurz verharrte meine Hand mit dem Feuerzeug und fuhr dann mit einem Klicken des Feuersteins an die Zigarettenspitze. Mit einem Knistern und Aufflammen inhalierte ich den ersten Zug und lehnte mich dann seufzend im Sessel zurück. Das kleine Mädchen stand leicht nervös, von einem auf den anderen Fuß wippend, vor mir. Eine Hand im wild zerzausten Haar, die andere in einer dreckigen Latzhose vergraben. Das Wippen stoppte und sie beugte sich vor. Abwartend betrachtete ich das kleine Ding. Aber sie sprach keinen Ton, verbeugte sich lediglich und legte einen kleinen rot-grünen Apfel auf die unterste Stufe. Im nächsten Moment sprang sie lachend und hüpfend davon. Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Mühsam stand ich auf, nahm den Apfel in die Hand und schüttelte abermals den Kopf. Langsam ging ich zum Gartentor und schloss es, schaute vorher noch einmal die Straße herunter, aber das Mädchen war verschwunden. Mein Blick fiel wieder auf den Apfel. Ich nahm einen Bissen und verzog angewidert das Gesicht. Er schmeckte abscheulich. Ein bitterer Film legte sich auf Zähne und Gaumen. Ich spuckte den Bissen aus und warf den Apfel davon. An meinen Platz zurückgekehrt, nahm ich einen tiefen Schluck Bier und steckte mir eine weitere Zigarette an, um diesen eigenartig aufdringlichen Geschmack zu überdecken. Jedoch vergebens. Meine Zunge fühlte sich merkwürdig pelzig und taub an. Das Gefühl schien sich in meinem Mund mehr und mehr auszubreiten, sodass ich gierig nach dem Bier griff, es leer trank und gleich nach einem neuen griff, welches ich in einem Zug herabstürzte. Außer Atem holte ich tief Luft und spürte voller Schrecken, wie sich das Gefühl weiter den Rachen herabstürzte und meinen Körper zu erfüllen begann. Ich wurde panisch, mein Herz schlug schneller, wilder. Die Nasenflügel bebten, saugten gierig Luft in meine Lunge. Aber nichts half. Meine Kehle schnürte sich zu. Ein Schreien versagte den Weg zu den Stimmbändern und verhallte ungehört in meinem Verstand. Gehetzt blickte ich mich um, versuchte aufzustehen, aber meine Beine verweigerten ihren Dienst. Mein Körper wurde kraftloser, während die Umgebung begann, sich aufzulösen. Das Holz der Veranda splitterte nach und nach, wandelte sich zu Staub, verschwand im Nichts. Gras welkte, verweste, ließ nichts als wüste Erde zurück. Der Sessel, auf dem ich saß, knirschte, verrottete, barst zu einer Wolke, während ich, unfähig mich zu bewegen, in der Luft verharrte. Ich war ohnmächtig, verdammt zuzuschauen, wie sich alles nach und nach zu Trümmern, Asche und Staub wandelte. Ein heißer Wind fegte über die wüste Ebene, blies die mich umgebende Wolke davon. Ich selbst verharrte immer noch schwebend, spürte und beobachtete, wie sich meine alte brüchige Haut abblätterte. Mehr aus Angst als vor Schmerz krümmte ich mich zusammen, während nach und nach mein Fleisch und meine Knochen zerfielen. Im selben Moment jedoch erlebte mein Körper eine Wiedergeburt. Muskeln, die eingefallen zu Asche zerfielen, wuchsen neu, frisch, dehnten, spannten und verbanden sich. Das falsche Gebiss fiel mir aus dem Mund und aus dem jungen, gesunden Zahnfleisch wuchs eine Reihe neuer, starker Zähne. Haare und Bart gewannen an Farbe, wuchsen kräftig, lockig nach. Und über das Fleisch meines Körpers legte sich eine spannende, rosige Haut. Wie wild begann mein Körper jetzt zu zittern, als müsste sich der Verstand zunächst an dieses neue Gefäß gewöhnen und sackte dann langsam zu Boden. Sanft wurde ich abgesetzt, immer noch zitternd, trotz der Wärme frierend. Hustend spuckte ich einen blutigen klumpen Eiter aus, mich weiter am Boden wälzend, bis meine Haut von einer Schicht aus sandfarbenem Staub bedeckt war. Am Rücken liegend beruhigte ich mich, die Augen noch geschlossen haltend. Als ich sie aufriss, blickte ich zur stechend hellen Sonne, dass meine Pupillen auf Stecknadel Größe schrumpften und ich meine Augen schmerzhaft zusammenreißen musste. Geblendet sah ich Flecken verschiedenster Farbe durch mein Blickfeld schweben. Langsam ruhiger werdend, setzte ich mich auf, wartete noch kurz, ehe ich vorsichtig meine Augen erneut öffnete. Vor mir breitete sich eine endlos erstreckende Wüste aus. Ein trockener Wind fegte über kleine und größere Trümmerstücke, die sich geräuschlos weiter auflösten und schließlich zu Staub zerfallen an mir vorbei wehten. Stolpernd drehte ich mich um die eigene Achse, aber alles, was ich erfassen konnte, war das trostlose Nichts. Lachend sackte ich auf Knie und Hände. Das konnte doch wohl nicht wahr sein. Wie irre begann ich zu kichern, als der Blick auf meine Hände fiel. Es musste ein Traum sein, anders war das nicht zu erklären. Ich legte mich auf den Rücken und betrachtete erstaunt meine Handflächen. Es fühlte sich furchtbar real an. Ich kniff mir in den Handrücken und die gesunde Haut schnellte gleich wieder, leicht gerötet, zurück. Keine Spuren des Alters waren zurück geblieben. Ich seufzte und richtete mich auf, fühlte die jungen Muskeln in mir arbeiten, spürte die Kraft, die mich durchströmte. Mein Lächeln wuchs und wuchs, erfasste bald den ganzen Körper. Versuchsweise machte ich einige Sprünge, warf mich in die Luft und schlug in kindlicher Freude Räder. Ich fühlte mich wie ein Lahmer, der das Laufen wieder erlernte. Mächtig spürte ich mein Herz schlagen, ich stand still, füllte ohne ein Keuchen und Kratzen meine Lunge, als ich ein Beben zu meinen Füßen spürte. Um mich herum brach die Erde in sich zusammen. Risse zogen sich Schlangen gleich durch das Gestein, fraßen sich tiefer und tiefer in das Erdreich. Felsen brachen ab und fielen in unabsehbare Tiefe. Sie wurden nach und nach verschlungen vom flammenden Kern, bis nur mehr ein steinerner Stift verblieb, auf dem ich stand. Einen Moment stand alles still. Kein Ton war zu vernehmen. Selbst mein Herz setzte einen Schlag aus. Eine innere Ruhe ergriff mich, als ich in die Leere trat und absprang. In der Schwärze verharrend sah ich die Welt untergehen, sich verwandeln in einen farbenfrohen Feuerball, sich selbst verzehrend, immer wieder gebärend, um dann, ohne Verbleib, im Nichts zu verschwinden.
Aus dem Nichts heraus entstand lautlos im leeren Raum ein dunkler, runder Körper. Schwach glimmend nahm man im Innern eine pulsierende Lichtquelle wahr, die sich nach und nach ausdehnte und bald das ganze Gebilde vereinnahmte. Wie eine Flüssigkeit waberte das Licht mal mehr, mal weniger stark. Im stetigen Rhythmus eines schlagenden Herzens pumpte die Erscheinung das Licht weiter hinaus, bis sich feine, sanft leuchtende Wurzeln abzweigten, durch die das Licht wie Blut schwappte. Es entstand ein Geäst, welches sich in alle Richtungen gleichsam ausbreitete, immer feiner, immer strukturierter werdend. Ein brummendes Vibrieren ergriff mich. Meine Hand fuhr langsam an die Brust. Es war mir, als hörte und spürte ich einen gigantischen Bienenschwarm durch mich hindurch fliegen. Mein Herzschlag beschleunigte sich, wurde aufgeregter, wilder. Schlug gleichsam im Takt des pulsierenden Lichtes. Es dehnte sich aus. Sackte wieder zusammen. Mit jedem Ausdehnen erweiterte sich das Geäst in alle Richtungen, bis es bald das Schwarze im Innern verdrängte. Ward nurmehr ein warm leuchtender Ball wogenden Lichtes. Flüssige Flammen leckten in eleganten Wirbeln über die Oberfläche, zogen feine, glänzende Fäden hinter sich her, die nach und nach wieder verblassten. Das Gebilde wuchs fortwährend, dehnte sich unaufhaltsam aus. Gebar weitere glimmende Körper, die, ebenfalls sich in ihrer Form entfaltend, in Ellipsen um den glühenden Ball rotierten. In einem ohrenbetäubend stillen Moment verharrte alles. Um sich dann in unsagbarer Geschwindigkeit zu verdichten, bis der Körper in Staubkorngröße alles vereinnahmte. In Sekundenbruchteilen waberten Flammen stärker und stärker leuchtend, Leben erschaffend, die Leere verzehrend. Meere, Berge, Wälder. Alles wurde in einem Augenblick aus Flammen geboren. Ich wurde hinein gesogen in diesen Wirbelsturm der mir atemraubenden Eindrücke. Starb, lebte jahrelang in jener Sekunde. Wurde neu geboren in zehntausenden Momenten. Ich lachte schrie, johlte. Blickte auf, sprach Wörter, die ich nicht vernahm. Ein Rausch, ein flüssiger Traum. Ich lebte, pulsierte, vibrierte, veränderte die Gestalt in etwas, das zwischen allen Grenzen lag. Ich schmolz, verdampfte, wurde, geschah. Wandelte durch weite Wüsten und schwamm durch sich ewig erstreckende Meere. Als ich den höchsten Punkt der Erde erreichte, biss ich herzhaft in einen Apfel, den mir ein junges Mädchen reichte.
„Gewöhnlich ist das Leben niemals, solange du deine Augen für das Ungewöhnliche öffnest“, sagte sie mir mit einem fröhlichen Augenzwinkern. -

Mittwoch, 8. April 2015

Die Welt war untergegangen. Hatte sich verwandelt in einen farbenfrohen Feuerball, sich selbst verzehrend, immer wieder gebärend, um dann, ohne Verbleib, im Nichts zu verschwinden.
Aus dem Nichts heraus entstand, lautlos im leeren Raum, ein dunkler, nahezu schwarzer, runder Körper. Schwach glimmend nahm man im Innern eine pulsierende Lichtquelle wahr, die sich nach und nach ausdehnend, bald den ganzen Körper vereinnahmte. Wie eine Flüssigkeit waberte das Licht mal mehr, mal weniger stark. Im stetigen Rythmus eines schlagenden Herzens pumpte der Körper das Licht weiter hinaus, bis sich feine, sanft leuchtende Wurzeln abzweigten, durch die das Licht wie Blut schwappte. Es entstand ein Geäst, welches sich in alle Richtungen gleichsam ausbreitete, immer feiner, immer struktierter werdend. Ein brummendes Vibrieren ergriff ihn. Seine Hand fuhr langsam an die Brust. Es war ihm, als hörte und spürte er einen gigantischen Bienenschwarm durch sich hindurch fliegen. Sein Herzschlag beschleunigte sich, wurde aufgeregter, wilder. Schlug gleichsam im Takt des pulsierenden Lichtes. Es dehnte sich aus. Sackte wieder zusammen. Mit jedem Ausdehnen erweiterte sich das Geäst gleichmäßig in alle Richtungen. Immer feiner werdend verdrängte es bald das Schwarze im Innern. Ward nurmehr ein warm leuchtender Ball wogenden Lichts. Flüssige Flammen leckten in eleganten Wirbeln über die Oberfläche, zogen feine, glänzende Fäden hinter sich her, die nach und nach wieder verblassten. Der Körper wuchs fortwährend, dehnte sich unaufhaltsam aus. Gebar weitere glimmende  Körper, die, ebenfalls sich in ihrer Form entfaltend, in Ellipsen um den glühenden Ball routierten. [...]

Dienstag, 24. März 2015

Eine Lektüre

Ein dumpfes Pochen. Er öffnet die Tür. Leere. Verwundert zieht er eine Augenbraue herauf und schließt die Tür. Kurze zeit später. Ein dumpfes Pochen. Er springt an die Tür. Öffnet sie. Leere. Nun wandern beide Augenbrauen in die Höhe. Verwunderung. Langsam schließt er die Tür, nicht ohne ein weiteres Mal auf den Flur hinaus zu spähen. Jedoch nur Leere, also fällt die Tür ins Schloss. Er schüttelt den Kopf. Lacht über sein irritierendes Gehör, setzt sich in den Sessel, alt braun, ein wenig zerfetzt, jedoch gemütlich. Eine Zigarette wird angezündet, das Buch aufgeschlagen. Zwei Sätze ließt er. Ein dumpfes Pochen. Er sieht auf, schüttelt schmunzelnd den Kopf, widmet sich seiner Lektüre. Die Lektüre: weiß, gebunden, golden stehen die Initialen G.G. auf dem Buchrücken, der Inhalt scheint den Lesenden zu amüsieren. Er grinst. Ein dumpfes Pochen. Das Grinsen erstirbt. Die Lektüre beiseite gelegt. Er schmaucht seine Zigarette, bläst den blauen Dunst Richtung Tür, ganz so als wolle er jenes Geräusch verscheuchen. Vergebens. Ein dumpfes Pochen. Langsam, ernste Miene. Er nähert sich der Tür, öffnet diese. Leere. Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen. Verärgert wirft er die Zigarette auf den Flur, schließt die Tür. Setzt sich erneut. Nimmt sein Buch zur Hand, schlägt es nicht auf, sein Gemüt zu erregt. Er lauscht. Er wartet. Nichts. Das Buch wird aufgeschlagen. In diesem Moment. Ein dumpfes Pochen. Ruhe. Er analysiert dieses Geräusch. Neigt den Kopf. Ein dumpfes Pochen. Legt das Buch beiseite. Er betritt sein Schlafzimmer. Schüttelt den Kopf. Verlässt es. Das Schlafzimmer: Dunkel, ein kleines Fenster, kahl, ja leer, bis auf ein leicht verstaubtes Bett. Scheint zuletzt vor Monaten benutzt. Die Schlafzimmertür wird geschlossen. Die Küchentür geöffnet. Nasenrümpfen. Die Augenbrauen neugierig erhoben. Der Blick suchend. Der Kopf geneigt. Er blickt über ungewaschenes Geschirr, verschimmelnd in der Spüle liegend. Die Kühlschranktür geöffnet. Dunkelheit, Spinnweben. Er öffnet das Fenster. Späht hinaus, erfasst alles. Leere. Er schüttelt den Kopf. Schließt das Fenster. Betritt sein Arbeitszimmer. Nimmt ein unvollkommenes Manuskript vom Schreibtisch, blickt auf den Titel. Lässt es achtlos fallen. Ein dumpfes Pochen. Er nähert sich dem Bücherregal. Horcht. Wartet. Schließt die Augen. Öffnet sie wieder. Vor seinen Augen breiten sich Unmengen seiner Bücher aus, schlagen auf, schlagen zu. Ein dumpfes Pochen. Ein Bücherturm wächst. Wird höher, wird breiter, er erkennt keine Bewegung. Ist umschlossen. Erstaunt inspiriert erhebt er seinen Kopf. Wird erschlagen. Wird zum Wort. .-
Ein Tag, wie jeder Andere.

Stille. Ab und an das Rascheln von Seiten. Das Telefon klingelt ungehört in der leeren Wohnung. Nach einigen Minuten gibt der Anrufer auf, wirft alles wieder in gewohnte Stille. Schlafzimmer und Küche sind in Dunkelheit getaucht, nur aus dem Arbeitszimmer dringt der schwache, fahle Schein einer einzelnen Lampe. Sie steht auf einem Tisch, beleuchtet den Seismographen, wie er beharrlich und stumm seine geraden Linien fährt. Auch ist das Buch in den Händen des jungen Mannes gerade zum Lesen ausreichend in Licht getaucht. Eine Seite wird raschelnd umgeblättert. Blind greift er nach der Kaffeetasse und nimmt einen Schluck. Mit angewiderter Miene wird sie jedoch achtlos wieder auf den Tisch gestellt. Den Kaffee lauwarm zu nennen wäre noch ein Kompliment gewesen. Zeitlupen gleich fällt die Tasse um und sprenkelt den Tisch mit dunkel braunen Flecken. Seufzend blickt er von seinem Buch auf und folgt gelangweilt dem Werken des Seismographen. Ein resigniertes Kopfschütteln. Er zieht eine schlanke Zigarette aus der Brusttasche seines ausgeblichenen Hemdes. Die ursprüngliche Farbe lässt sich nicht einmal erahnen. Das Klicken des Feuerzeugs hallt durch die Wohnung. Kurz sind seine traurigen, müden Gesichtszüge in dichten, blauen Dunst gehüllt. Verborgen sind die tiefen Augenringe und die vom Schlafmangel geröteten Augen. Die kleine Schreibtischlampe lässt die Furchen auf seiner Stirn noch tiefer erscheinen und das lange fettige Haar ist im Schatten nur zu erahnen. Genervt stöhnend lehnt er sich im Bürostuhl zurück und blickt an die Decke. Sie ist vom Alter fleckig und hier und da blättert der Putz von den Wänden. Die Zigarette wird im überquellenden Aschenbecher ausgedrückt, überall auf dem Tisch liegen bereits die Zigarettenstummel verteilt. Einige Fliegen sitzen auf den Resten einer kalten, alten Pizza. Er steht auf und geht seine Muskeln lockernd hinüber zum Fenster. Der Blick hinaus muntert nicht wirklich auf. Finsternis, eine Hauswand, keinen Meter vor ihm. In der spärlich beleuchteten Gasse unter ihm sammelt sich der Müll vieler Generation, keiner hatte sich je die Mühe gemacht ihn wegzuräumen und so wuchs und wuchs er mit den Anwohnern. Er schließt das Fenster und dreht sich um, um wieder an seinen gewohnten Platz zu wanken. Aber etwas hatte sich verändert. Sein Herz beginnt schneller und schneller zu schlagen, noch ehe er ahnt, dass etwas nicht stimmt. Er kann sich nicht bewegen. Etwas hält ihn am Boden. Erschrocken schreit er auf. Eine Flüssigkeit. Sie kriecht an ihm empor, umgibt seine Beine. Verzweifelt versucht er sie loszuwerden. Abzureißen. Abzuschütteln. Vergebens. Sein Herz springt beinahe aus seiner Brust. Adrenalin pumpt, schießt durch seine Adern. Er wirft sich hin und her, unfähig etwas zu ändern, ohnmächtig. Sie hatte nun seine Brust erreicht Kriecht immer weiter, ummantelt seinen Oberkörper, strebt seinen Hals empor. Tief atmet er ein und seufzt gedehnt. Als er die Augen schließt, verschlingt die Flüssigkeit seinen Kopf. Das Blut rauscht in seinen Ohren. Warm pulsiert, prickelt seine Haut. Verzweifelt schnappt er erstickend nach Luft. Und saugt die stickige Zimmerluft in seine Lungen. Prompt muss er kräftig husten, fällt auf die Knie und ringt nach Luft. Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, öffnet er langsam die Augen. Er hatte erwartet zu ersticken, zu sterben. Der Tod war vor ihm gelegen. Was nun vor seinen Augen liegt ist ihm unbegreiflich. Er kneift die Augen zusammen, aber nachdem er sie wieder geöffnet hatte war er immer noch von einer glänzenden, durchsichtigen Blase umgeben. Überrascht schnaubt er auf. Was ging nur vor sich? Er kratzte sich am Hinterkopf. Verstehen tat er rein gar nicht mehr. Vorsichtig streckt er seine Hand aus und berührt die Innenwand. Sie fühlt sich warm an, ganz so als würde Leben in ihr stecken. Er zieht einen Kugelschreiber aus der Tasche und stößt ihn kräftig in die Wand. Nichts weiter geschieht, als das sich die Wand ausdehnt und dann denn Stift einfach zurück schnellen lässt. Er lehnt sich versuchsweise gegen die Blase, aber sie dehnt sich nur einen halben Meter, ehe sie ihn sanft zurück drückt. Als er sich dagegen wirft, ist das Ergebnis das gleiche. Seufzend setzt er sich. Summend beginnt der Seismograph die geraden Linien zu verlassen und kräftig auszuschlagen. Seine Augenbrauen heben sich und er lacht freudlos auf. Das durfte doch wohl nicht wahr sein. Da wartete er sein halbes Leben darauf, dass eben dies geschieht und nun ist er unfähig sich auch nur einen Meter vorwärts zu bewegen. Verzweifelt lacht er abermals auf. Gefangen ist er dazu verdammt, tatenlos zuzusehen. Ein leichtes Rütteln erfasst das Gebäude. Das Telefon klingelt sturm. Kleine Teile Putz fallen von der Decke und zerbersten auf dem Boden, an den Wänden der Blase. Ungerührt umgibt sie ihn, warm pulsierend. Das Rütteln wird stärker, dehnt sich zu einem Beben aus. Größere Teile der Decke lösen sich und fallen zu Boden. Rissen ziehen sich Schlangen gleich durch Boden und Wände. Erst vereinzelt, dann bricht alles unaufhaltsam zusammen. Das Mondlicht dringt durch die Löcher der Decke und sprenkelt den rissigen Boden mit kaltem, fahlem Licht. Alles verharrt in unglaublich bedrohlicher Stille. In einem unendlich langsamen Augenblick verliert seine Umgebung jegliche Farbe. Die Welt war weiß. Farblos. Im Bruchteil eines Moments explodiert Alles. Wird verschlungen von einer gigantischen Feuerbrunst. Alles wandelt sich zu Asche. Eine Wüste aus Trümmern, gekrönt durch eine Flammenblüte. Dann. Nichts als Schwärze umgibt ihn, nur tiefste Finsternis. Langsam, wärmend beginnt die Blase zu glühen, zu leuchten. Bedächtig löst sie sich vom Grund, lässt die Wolke aus Staub unter sich und strebt höher und immer höher. Als er herab blickt erstreckt sich unter ihm die Ruine der Welt, die immer kleiner und kleiner werdend, schließlich völlig verschwindet. Während er gefangen, gerettet in dieser Blase in die Dunkelheit der Unendlichkeit strebt. Umgeben von nichts als Stille.
Ein Atemzug

Er schloss die Augen. Langsam wurde das Rauschen der Gespräche leiser und leiser, bis es schließlich vollends verstummte. Mehrmals atmete er ein und wieder aus. Sein Herz schlug im Takt des monotonen Klicken des Metronom vor seinem inneren Auge. Sanft hörte er das Blut durch seine Adern pulsieren, es leise in seinen Ohren rauschen. Vorsichtig öffnete er seine Augen. Noch umgeben von all den Menschen, sah er nur mehr die Bewegungen ihrer Lippen, leichte bis angeregte Gestiken. Die Augen neugierig auf ihr Gegenüber gerichtet: Mal schweifen lassend und glasig vom Alkohol der durch ihre Adern strömte und die Wangen rötete. Dann wieder abwesend gelangweilte, teils auch verstörte, oder entnervte Blicke.
Freundlich lächelnd stellte die Kellnerin eine Kanne Tee vor ihn. Auch er lächelte und nickte langsam ein Danke. Er blickte ihr nach, als sie ging. Ihre innere Ruhe faszinierte ihn. Sie verschwand um eine Ecke und er ließ seinen Blick wieder schweifen. Erforschte jedes Gesicht, folgte dem Treiben ihrer Augen, Lippen, Wangenmuskeln. Wie die Hände Bilder in die Luft zeichneten, ein stetes Vor- und Zurücklehnen, das nervöse und ruhige Sitzen oder Wippen im Takt der Musik. Es war unglaublich belebend. Gespannt beobachtete er, wie die Bewegungen erst langsamer und langsamer wurden, um schließlich in einer Momentaufnahme eingefroren zu werden. Es war ein lebendiger Stillstand. Wie in einer Fotografie saßen Menschen in verschiedenster Pose festgehalten. Trinkend, redend, lachend, versonnen oder traurig. Selbst die verschlungenen Wirbel des Dampfes seines Tees waren zu einer weichen, Watte artigen Masse gewandelt. Die Fäden der Musik durchdrangen, durchwoben den Raum, umschmeichelten die Gäste und drangen dann durch kleine Ritzen, Lücken, Spalten hinaus in die kühle Nacht. Langsam, vorsichtig stand er auf, um nicht dieses friedlich, gläserne Konstrukt der Stille, des Stillstandes zu zerstören. Mit sanfter Bewegung wischte er den bläulichen Dunst der Zigaretten beiseite und trat in das Lokal. Lächelnd wand er sich durch die Tische. Veränderte hier und dort einen Ton der Musik, auf dass er harmonischer, bewegender wurde, ergriff einen Lichtstrahl und legte ihn liebevoll auf das Profil einer schönen Frau, dass ihre Züge besser zur Geltung kamen. Er fühlte sich wie ein Maler, der durch sein Gemälde schwamm und sein möglichstes Tat, dem festgehaltenen Moment ein wenig mehr Perfektion zu schenken. So erschuf er nach und nach ein Bild friedlichster Harmonie. Als er an einen Tisch kam, an dem eine einzelne Frau saß, hielt er unwillkürlich inne. Sein Herz schlug aufgeregter, ohne, dass er den Grund benennen konnte. Zaghaft wischte er den Rauch, der ihre Gesichtszüge verborgen hielt, davon und blickte in die Augen einer ihn außergewöhnlich fesselnden Frau. Grasgrüne Augen blickten neugierig auf den Platz, an dem er gesessen hatte, die Lippen zu einem sanften Lächeln geformt. Elegant floss tiefschwarzes Haar das Gesicht umrahmend um ihre Schultern. Er setzte sich vor sie. Entdeckte kleine Lachfalten um die Augen, schwach bläuliche Augenringe versteckt unter einer leichten Schicht aus Makeup. Kleine, smaragdgrüne Ohrringe, fast verborgen unter den Wellen ihrer Haare. Bewunderte die Art und Weise, wie sie mit abgewinkeltem Handgelenk, den Arm auf den Tisch gestützt, die Zigarette hielt. Wollte ihr über die leicht geröteten Wange streichen, traute sich jedoch nicht und zog die Hand wieder zurück. Eindringlich schienen ihn ihre Augen zu betrachten, dass er wohlig lächelte. Er wollte sie fragen, wie sie hieß, wer sie war, warum sie hier war. Aber sie war erstarrt, und somit unerreichbar. Der sie umwerbende Rauch ließ sie surreal erscheinen, wie ein Wesen einer anderen Welt.
Er blickte sich wieder um und seufze tief, die Schultern hängen lassend. Dieser Moment war unbeschreiblich schön, aber das, was ihm fehlte war das Vergängliche, das Lebendige.Er wusste nicht zu sagen, wie viel Zeit er schon damit verbracht hatte einen Moment zu zeichnen, der nur dann vollkommen war, wenn er ihn losließ. Wankend ging er unsicher wieder zurück an seinen Platz in der Ecke des Lokals, erwiderte noch ein letztes Mal den Blick der grünen Augen, ehe er sich langsam setze und die Augen schloss. Tief sog er die Luft ein, als er sie vorsichtig wieder öffnete. Eine Flut der Geräusche überrannte ihn. Alle Menschen bewegten sie wie im Zeitraffer unaufhaltsam schnell. Noch bevor er zu jener Frau blicken konnte hatte sie schon gezahlt und war gegangen. Schnell und immer schneller leerten sich alle Tische, bis er schließlich als Einziger in einem leeren, abgedunkelten Lokal saß. -