Wie
ein Lahmer das Laufen lernte
eine
Kurzgeschichte,
Jonas
Bente, April 2015
Und was tat ich jetzt? Ich saß. Eine Tätigkeit, die
ich über die Jahre hinweg perfektioniert hatte. Von Mittags bis hin
zum frühen Abend existierte für mich nur die Veranda, mein kleiner
Vorgarten und die leere Straße. Während dieser Zeit war diese
kleine Welt mein Lebensmittelpunkt. Ich dachte nach, ließ mein
Leben, meinen momentanen Zustand der trockenen Alltäglichkeit Revue
passieren. Neben mir ein Sechserträger Lone Star, welchen ich bis
hin zum letzten Sonnenstrahl geleert hatte. Dann ging ich leicht
schwankend in die Küche, stellte ein Fertiggericht in die Mikrowelle
und betrachtete die drehende Plastikschale bis der erlösende Ton
erklang. Ich ging in mein Schlafzimmer, aß lesend die geschmacklose,
nur lauwarme Masse und legte mich, mit einem Knirschen meiner
Knochen, einem Knarzen des Bettes schlafen. Als das Sonnenlicht durch
das Fenster drang, erwachte ich gerädert und meine immerwährend
gleichbleibende Routine wiederholte sich. Immer und immer wieder.
Nach einem Spaziergang nahm ich auf der Veranda Platz, blickte auf
meine faltigen, von Altersflecken übersäten Hände, herab auf
meinen knochigen Körper, den meine weite Kleidung ja doch nicht
verdecken konnte. Warum auch? Ich betrachtete den verwahrlosten
Garten und die brüchiger werdende Straße. Alles zerfiel stetig, so
verging die Zeit. Mein Bart wurde länger, der Garten verwilderte
zusehends. In der Wohnung stapelte sich der Müll und dreckiges
Geschirr, sodass bald ein Geruchgemisch aus Bier, abgestandenen
Zigarettenrauch und Verwesung schwer durch die Wohnung waberte, bis
irgendwann jemand von der Gemeinde kam, den Garten und die Wohnung
zumindest oberflächlich in Ordnung brachte. Mein Haus sollte
schließlich nicht das Bild des Dorfes mit ihren feinen Gärten und
Häuschen ruinieren. Ich spuckte aus bei dem Gedanken daran. Die
Versuche des Sozialarbeiters ein Gespräch aufzubauen, wies ich ab.
Ich brauchte kein geheucheltes Interesse, kein Mitleid für meinen
Zustand. Ich hatte es mir so ausgesucht. Bedarf an einer Unterhaltung
mit einem über motivierten, pubertierenden, jungen Mann hatte ich
wahrlich nicht.
Seufzend
öffnete ich mit einem Klacken die nächste Dose Bier. Nach einem
tiefen Schluck stellte ich sie schmatzend wieder neben meinen Sessel.
Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung auf der
gegenüberliegenden Straßenseite wahr. Neugierig hob ich den Blick
und wartete geduldig, dass jemand oder etwas aus den Büschen
heraustrat. Nichts passierte. Wahrscheinlich hatte ich es mir
eingebildet, dachte ich schulterzuckend. Ich nahm mir eine Zigarette
aus der Brusttasche meines ausgeblichenen Hemdes und steckte sie mir
in den Mundwinkel. Noch bevor ich sie mir anzünden konnte, hörte
ich leise trippelnde Schritte, die vor der Treppe zur Veranda
stoppten. Kurz verharrte meine Hand mit dem Feuerzeug und fuhr dann
mit einem Klicken des Feuersteins an die Zigarettenspitze. Mit einem
Knistern und Aufflammen inhalierte ich den ersten Zug und lehnte mich
dann seufzend im Sessel zurück. Das kleine Mädchen stand leicht
nervös, von einem auf den anderen Fuß wippend, vor mir. Eine Hand
im wild zerzausten Haar, die andere in einer dreckigen Latzhose
vergraben. Das Wippen stoppte und sie beugte sich vor. Abwartend
betrachtete ich das kleine Ding. Aber sie sprach keinen Ton,
verbeugte sich lediglich und legte einen kleinen rot-grünen Apfel
auf die unterste Stufe. Im nächsten Moment sprang sie lachend und
hüpfend davon. Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Mühsam stand ich
auf, nahm den Apfel in die Hand und schüttelte abermals den Kopf.
Langsam ging ich zum Gartentor und schloss es, schaute vorher noch
einmal die Straße herunter, aber das Mädchen war verschwunden. Mein
Blick fiel wieder auf den Apfel. Ich nahm einen Bissen und verzog
angewidert das Gesicht. Er schmeckte abscheulich. Ein bitterer Film
legte sich auf Zähne und Gaumen. Ich spuckte den Bissen aus und warf
den Apfel davon. An meinen Platz zurückgekehrt, nahm ich einen
tiefen Schluck Bier und steckte mir eine weitere Zigarette an, um
diesen eigenartig aufdringlichen Geschmack zu überdecken. Jedoch
vergebens. Meine Zunge fühlte sich merkwürdig pelzig und taub an.
Das Gefühl schien sich in meinem Mund mehr und mehr auszubreiten,
sodass ich gierig nach dem Bier griff, es leer trank und gleich nach
einem neuen griff, welches ich in einem Zug herabstürzte. Außer
Atem holte ich tief Luft und spürte voller Schrecken, wie sich das
Gefühl weiter den Rachen herabstürzte und meinen Körper zu
erfüllen begann. Ich wurde panisch, mein Herz schlug schneller,
wilder. Die Nasenflügel bebten, saugten gierig Luft in meine Lunge.
Aber nichts half. Meine Kehle schnürte sich zu. Ein Schreien
versagte den Weg zu den Stimmbändern und verhallte ungehört in
meinem Verstand. Gehetzt blickte ich mich um, versuchte aufzustehen,
aber meine Beine verweigerten ihren Dienst. Mein Körper wurde
kraftloser, während die Umgebung begann, sich aufzulösen. Das Holz
der Veranda splitterte nach und nach, wandelte sich zu Staub,
verschwand im Nichts. Gras welkte, verweste, ließ nichts als wüste
Erde zurück. Der Sessel, auf dem ich saß, knirschte, verrottete,
barst zu einer Wolke, während ich, unfähig mich zu bewegen, in der
Luft verharrte. Ich war ohnmächtig, verdammt zuzuschauen, wie sich
alles nach und nach zu Trümmern, Asche und Staub wandelte. Ein
heißer Wind fegte über die wüste Ebene, blies die mich umgebende
Wolke davon. Ich selbst verharrte immer noch schwebend, spürte und
beobachtete, wie sich meine alte brüchige Haut abblätterte. Mehr
aus Angst als vor Schmerz krümmte ich mich zusammen, während nach
und nach mein Fleisch und meine Knochen zerfielen. Im selben Moment
jedoch erlebte mein Körper eine Wiedergeburt. Muskeln, die
eingefallen zu Asche zerfielen, wuchsen neu, frisch, dehnten,
spannten und verbanden sich. Das falsche Gebiss fiel mir aus dem Mund
und aus dem jungen, gesunden Zahnfleisch wuchs eine Reihe neuer,
starker Zähne. Haare und Bart gewannen an Farbe, wuchsen kräftig,
lockig nach. Und über das Fleisch meines Körpers legte sich eine
spannende, rosige Haut. Wie wild begann mein Körper jetzt zu
zittern, als müsste sich der Verstand zunächst an dieses neue Gefäß
gewöhnen und sackte dann langsam zu Boden. Sanft wurde ich
abgesetzt, immer noch zitternd, trotz der Wärme frierend. Hustend
spuckte ich einen blutigen klumpen Eiter aus, mich weiter am Boden
wälzend, bis meine Haut von einer Schicht aus sandfarbenem Staub
bedeckt war. Am Rücken liegend beruhigte ich mich, die Augen noch
geschlossen haltend. Als ich sie aufriss, blickte ich zur stechend
hellen Sonne, dass meine Pupillen auf Stecknadel Größe schrumpften
und ich meine Augen schmerzhaft zusammenreißen musste. Geblendet sah
ich Flecken verschiedenster Farbe durch mein Blickfeld schweben.
Langsam ruhiger werdend, setzte ich mich auf, wartete noch kurz, ehe
ich vorsichtig meine Augen erneut öffnete. Vor mir breitete sich
eine endlos erstreckende Wüste aus. Ein trockener Wind fegte über
kleine und größere Trümmerstücke, die sich geräuschlos weiter
auflösten und schließlich zu Staub zerfallen an mir vorbei wehten.
Stolpernd drehte ich mich um die eigene Achse, aber alles, was ich
erfassen konnte, war das trostlose Nichts. Lachend sackte ich auf
Knie und Hände. Das konnte doch wohl nicht wahr sein. Wie irre
begann ich zu kichern, als der Blick auf meine Hände fiel. Es musste
ein Traum sein, anders war das nicht zu erklären. Ich legte mich auf
den Rücken und betrachtete erstaunt meine Handflächen. Es fühlte
sich furchtbar real an. Ich kniff mir in den Handrücken und die
gesunde Haut schnellte gleich wieder, leicht gerötet, zurück. Keine
Spuren des Alters waren zurück geblieben. Ich seufzte und richtete
mich auf, fühlte die jungen Muskeln in mir arbeiten, spürte die
Kraft, die mich durchströmte. Mein Lächeln wuchs und wuchs,
erfasste bald den ganzen Körper. Versuchsweise machte ich einige
Sprünge, warf mich in die Luft und schlug in kindlicher Freude
Räder. Ich fühlte mich wie ein Lahmer, der das Laufen wieder
erlernte. Mächtig spürte ich mein Herz schlagen, ich stand still,
füllte ohne ein Keuchen und Kratzen meine Lunge, als ich ein Beben
zu meinen Füßen spürte. Um mich herum brach die Erde in sich
zusammen. Risse zogen sich Schlangen gleich durch das Gestein, fraßen
sich tiefer und tiefer in das Erdreich. Felsen brachen ab und fielen
in unabsehbare Tiefe. Sie wurden nach und nach verschlungen vom
flammenden Kern, bis nur mehr ein steinerner Stift verblieb, auf dem
ich stand. Einen Moment stand alles still. Kein Ton war zu vernehmen.
Selbst mein Herz setzte einen Schlag aus. Eine innere Ruhe ergriff
mich, als ich in die Leere trat und absprang. In der Schwärze
verharrend sah ich die Welt untergehen, sich verwandeln in einen
farbenfrohen Feuerball, sich selbst verzehrend, immer wieder
gebärend, um dann, ohne Verbleib, im Nichts zu verschwinden.
Aus
dem Nichts heraus entstand lautlos im leeren Raum ein dunkler, runder
Körper. Schwach glimmend nahm man im Innern eine pulsierende
Lichtquelle wahr, die sich nach und nach ausdehnte und bald das ganze
Gebilde vereinnahmte. Wie eine Flüssigkeit waberte das Licht mal
mehr, mal weniger stark. Im stetigen Rhythmus eines schlagenden
Herzens pumpte die Erscheinung das Licht weiter hinaus, bis sich
feine, sanft leuchtende Wurzeln abzweigten, durch die das Licht wie
Blut schwappte. Es entstand ein Geäst, welches sich in alle
Richtungen gleichsam ausbreitete, immer feiner, immer strukturierter
werdend. Ein brummendes Vibrieren ergriff mich. Meine Hand fuhr
langsam an die Brust. Es war mir, als hörte und spürte ich einen
gigantischen Bienenschwarm durch mich hindurch fliegen. Mein
Herzschlag beschleunigte sich, wurde aufgeregter, wilder. Schlug
gleichsam im Takt des pulsierenden Lichtes. Es dehnte sich aus.
Sackte wieder zusammen. Mit jedem Ausdehnen erweiterte sich das Geäst
in alle Richtungen, bis es bald das Schwarze im Innern verdrängte.
Ward nurmehr ein warm leuchtender Ball wogenden Lichtes. Flüssige
Flammen leckten in eleganten Wirbeln über die Oberfläche, zogen
feine, glänzende Fäden hinter sich her, die nach und nach wieder
verblassten. Das Gebilde wuchs fortwährend, dehnte sich unaufhaltsam
aus. Gebar weitere glimmende Körper, die, ebenfalls sich in ihrer
Form entfaltend, in Ellipsen um den glühenden Ball rotierten. In
einem ohrenbetäubend stillen Moment verharrte alles. Um sich dann in
unsagbarer Geschwindigkeit zu verdichten, bis der Körper in
Staubkorngröße alles vereinnahmte. In Sekundenbruchteilen waberten
Flammen stärker und stärker leuchtend, Leben erschaffend, die Leere
verzehrend. Meere, Berge, Wälder. Alles wurde in einem Augenblick
aus Flammen geboren. Ich wurde hinein gesogen in diesen Wirbelsturm
der mir atemraubenden Eindrücke. Starb, lebte jahrelang in jener
Sekunde. Wurde neu geboren in zehntausenden Momenten. Ich lachte
schrie, johlte. Blickte auf, sprach Wörter, die ich nicht vernahm.
Ein Rausch, ein flüssiger Traum. Ich lebte, pulsierte, vibrierte,
veränderte die Gestalt in etwas, das zwischen allen Grenzen lag. Ich
schmolz, verdampfte, wurde, geschah. Wandelte durch weite Wüsten und
schwamm durch sich ewig erstreckende Meere. Als ich den höchsten
Punkt der Erde erreichte, biss ich herzhaft in einen Apfel, den mir
ein junges Mädchen reichte.
„Gewöhnlich ist das Leben niemals, solange du deine Augen für das
Ungewöhnliche öffnest“, sagte sie mir mit einem fröhlichen
Augenzwinkern. -